Zur nachträglich veränderten Einigung beim Thema „zeitlich nachgelagerte biometrische Identifizierung“ im Rahmen des Europäischen KI-Gesetzes (AI Act) äußert die Schattenberichterstatterin im Binnenmarktausschuss, Svenja Hahn (FDP) harsche Kritik:
„Es ist unfassbar, dass die spanische Ratspräsidentschaft dafür gesorgt hat, dass der endgültige Gesetzestext in wesentlichen Punkten nicht mehr mit der mündlichen Einigung des Trilogs vom Dezember übereinstimmt. Es bleibt unklar, ab wann eine biometrische Identifizierung nicht mehr als "Echtzeit", sondern als "nachgelagert" gilt. Dadurch könnten die strengen Vorschriften zur Echtzeit-Identifizierung von Personen, die das Parlament gegenüber den Mitgliedsstaaten errungen hat, umgangen werden. Ursprünglich war mündlich vereinbart worden, dass auch die nachgelagerte Identifizierung nur für schwerwiegende Straftaten und unter sehr engen Bedingungen, wie etwa einem vorherigen Richtervorbehalt, erfolgen dürfte. Davon ist wenig übrig geblieben.“
Hahn warnt: „Der nachverhandelte Text zur nachträglichen biometrischen Identifizierung ist eine echte Bedrohung für Bürgerrechte. Anstelle des vereinbarten Richtervorbehalts soll nun auch eine administrative Behörde befugt sein, den Einsatz von Systemen zur biometrischen Identifizierung zu genehmigen, sowohl vor als auch erst nach einem Einsatz. Eine erste Identifizierung einer Person müsste nicht einmal autorisiert werden, und es gibt keine Beschränkungen hinsichtlich der Schwere der Straftaten. Selbst geringfügige Ordnungswidrigkeiten könnten durch Gesichtserkennung verfolgt werden. Das wäre ein völlig unverhältnismäßiger Einsatz biometrischer Technologie, wie wir es aus Diktaturen wie China kennen.“
Hahn ist besorgt, dass der AI Act genutzt werden könnte um Freiheiten einzuschränken:
„Bürgerrechtsorganisationen warnen bereits davor, dass in Ländern mit strengen Abtreibungsgesetzen wie beispielsweise Polen oder Malta, Frauen durch biometrische Überwachungstechnologie präventiv überwacht und verfolgt werden könnten. Die Mitgliedsstaaten können ihren Überwachungsfantasien freien Lauf lassen und ungehindert ihre Bevölkerung verfolgen. Die Orbáns der EU reiben sich doch die Hände.“
Hintergrund:
Im Dezember 2023 hatte sich das Europäische Parlament mit den Mitgliedsländern unter spanischer Führung zum AI Act geeinigt. Beim Abschnitt zu nachträglicher biometrischer Identifizierung gab es hierbei lediglich eine mündliche Einigung. Diese Einigung sah vor:
- Nachgelagerte biometrische Identifizierung gilt als Hochrisiko Anwendung.
- Der Einsatz in Strafverfolgung zu Ermittlungszwecken darf nur nach vorherigem Richtervorbehalt erfolgen.
- Ausschließlich nutzbar, um konkrete Verdächtige in Zusammenhang mit schwerer Straftat (Art. 83(1) TFEU) zu finden.
- Identifizierung anderer Personen außer der konkret Gesuchten im Videomaterial ist nicht erlaubt.
- Jeder Einsatz muss neben Marktüberwachung auch an Datenschutzbehörde gemeldet werden.
- Mitgliedsstaaten können restriktivere Regelungen erlassen.
Im Nachgang wurde von der spanischen Ratspräsidentschaft ein Kompromisstext vorgelegt, der diese mündliche Einigung in wesentlichen Punkten nicht widerspiegelte. Auf Arbeitsebene musste anschließend bis kurz vor Weihnachten weiterverhandelt werden. Gegen die Kritik von Svenja Hahn wegen fehlender rechtsstaatlicher Hürden zum Schutz von Bürgerrechten, wurde der Text nun als Einigung präsentiert.
Der Text der Einigung wurde von Netzpolitik.org hier veröffentlicht: https://netzpolitik.org/2024/ki-verordnung-biometrische-massenueberwachung-ohne-wenn-und-aber/#biometrische-ueberwachung
Weitere Berichterstattung: